Der EU-Energiebinnenmarkt würde enorme Werte schaffen. Verbraucher könnten von Milliardeneinsparungen profitieren, Jahr für Jahr. Doch die Nationalstaaten blockieren. Insbesondere Deutschland muss endlich seiner Verantwortung als zentrales Bindeglied im europäischen Stromnetz nachkommen, fordern Philip Baker und Andreas Jahn vom Regulatory Assistance Project (RAP) in ihrem Standpunkt.
Die aktuell in Brüssel verhandelten Vorschläge des Europäischen Rates zum Energiebinnenmarkt schwächen den von der Kommission vorgelegten Entwurf des Clean Energy Packages massiv. Die Vorschläge könnten zum Nachteil der europäischen Bürger und Stromkonsumenten sogar Praktiken legalisieren, die heute nicht erlaubt sind. Deutschland ist dabei eine der treibenden Kräfte.
Das von der EU-Kommission Ende 2016 vorgelegte „Clean Energy for all Europeans“-Paket will über drei Pfade (Kosten-)Vorteile für die Verbraucher realisieren: über die Erhöhung der Verbindungskapazitäten, die den (bisher nationalen) Märkten zur Verfügung stehen, über einen stärkeren regionalen Ansatz für die Ressourcenvorhaltung und über eine regionalisierte Bilanzierung.
Damit soll durch die besser genutzte Infrastruktur der gemeinschaftliche Ansatz gestärkt und Investitionen in nicht benötigte Erzeugungskapazitäten sollen vermieden werden. Diese Regionalisierung soll die Risiken besser bündeln und die geografische Vielfalt nutzen. Das heißt, die Auslastung der vorhandenen sowie der Investitionsbedarf in neue Erzeugungskapazitäten können über eine größere Region optimiert werden, sodass für die europäischen Verbraucher erhebliche Kosteneinsparungen möglich sind.
Die Schätzungen von Booz & Company für die EU-Kommission zeigen beispielsweise, dass die Wohlfahrtsgewinne durch die vollständige Integration der europäischen Strommärkte – teilweise sind diese schon durch die heutige Marktkopplung erreicht – bis 2030 im Bereich von 16 bis 43 Milliarden Euro pro Jahr liegen können. Der größte Mehrwert wurde und wird dabei auch zukünftig durch die Senkung der Stromgroßhandelspreise zu erzielen sein.
Engpässe werden an die Grenzen verschoben
Eine Analyse der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (Agency for the Cooperation of Energy Regulators, ACER) aus dem vergangenen Herbst zeigt jedoch, dass insbesondere in der zentral-westeuropäischen Region derzeit nur etwa ein Drittel der realistisch verfügbaren grenzüberschreitenden Kapazität für den Markt zur Verfügung stehen. So begrenzt Deutschland beispielsweise die Importe aus den Niederlanden auf etwa 12 Prozent der verfügbaren Verbindungskapazitäten, während die Niederlande 83 Prozent in die entgegengesetzte Richtung zulassen.
ACER zeigt, dass diese reduzierten (und unterschiedlichen) Kapazitäten ein Effekt der weitverbreiteten Praxis sind, die bestehenden internen, also nationalen Netzengpässe an die Grenzen zu „verschieben“. Dies ist insbesondere bemerkenswert, da es sich um eine Begrenzung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs handelt, um die Interessen eines Mitgliedstaats zu schützen – eine Praxis, die in keinem anderen europäischen Marktsegment toleriert werden würde.
Das heute schon bestehende EU-Recht (Artikel 16 der Verordnung (EG) Nr. 714/2009) wird durch den Artikel 14 des Kommissionsentwurfs verstärkt, der die Interessen der europäischen Stromverbraucher in Summe und nicht die Interessen eines einzelnen Mitgliedstaats schützen soll. Wichtig wäre daher eine Durchsetzung dieses „Verschiebeverbots“. Will ein Mitgliedstaat davon abweichen, sollte er nachweisen müssen, dass ansonsten die Versorgungssicherheit beeinträchtigt werden würde oder die Kosten den regionalen Nutzen übersteigen würden.
Der EU-Rat hat nun jedoch vorgeschlagen, die dem Markt angebotene Verbindungskapazität linear zu erhöhen. Ausgehend von der Kapazität, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens angeboten wird, soll diese bis spätestens 2025 linear auf 75 Prozent erhöht werden. Zum einen ist dieser Vorschlag recht willkürlich gewählt und fällt sogar hinter die bestehende Rechtslage zurück. Zum anderen generiert er einen Anreiz, mit einem niedrigen Ausgangsniveau in die Übergangsphase zu starten und somit die Mehrwerte des gemeinsamen Energiemarktes für die Verbraucher mindestens hinauszuzögern.
Nichtdestotrotz würde eine verbindliche 75 Prozent-Kapazitätsfreigabe im Jahr 2025 dazu führen, dass die Redispatch-Kosten (inklusive Einspeisemanagement) in Deutschland massiv steigen. Dies gilt selbst bei einem optimalen Nord-Süd-Netzausbau und einem verringerten Zubau von Windkraftanlagen im Norden. Sollte Deutschland nicht zwischenzeitlich eine Anpassung der heutigen nationalen Strompreiszone an die europäischen Gegebenheiten einleiten, kann das auch zum Bumerang werden, der die öffentliche Unterstützung der Energiewende in Gefahr bringt.
Kurzfristig gibt es Maßnahmen, die die Systembetreiber anwenden können, um die Kosten für die bisherige nationale Gebotszone zu mindern. Dazu gibt es Beispiele aus anderen Ländern wie Großbritannien und weitestgehend anerkannte Sofortmaßnahmen, wie beispielsweise von Agora Energiewende dargelegt. Aus europäischer Sicht wird entsprechend häufig die Frage aufgeworfen, warum ein solch großes und relevantes Flächenland wie Deutschland diese Maßnahmen noch nicht umgesetzt hat?
Nichtdestotrotz hilft dies nur, wenn Deutschland sich darüber hinaus den Folgen seiner nationalen Energiepolitik stellt. Vom gemeinsamen Europa zu profitieren, heißt auch, sich an der zu tragenden – und mitverursachten – Last zu beteiligen. Anderenfalls könnte man Deutschland zumindest unterstellen, eine Gefährdung der gemeinsamen, europäischen (Energiewende-)Politik billigend in Kauf zu nehmen.
Die skandinavischen Länder haben reagiert
Heute treten die deutsche Regierung und die deutschen Übertragungsnetzbetreiber in Brüssel maßgeblich für eine nationale Gebotszone ein, ohne die Folgen für die anderen Staaten oder die Alternativen ernsthaft abzuwägen. Denn durch die geografische Ausdehnung Deutschlands innerhalb Europas kommt uns eine besondere Verantwortung im Verhältnis zu unseren Nachbarn zu, da unser Handeln dort starke Auswirkungen hat.
Faktisch heißt das, solange bessere Windverhältnisse oder Gasbezüge in Norddeutschland automatisch höhere Gewinne für die Investoren bedeuten als ein Engagement in Süddeutschland, wird der Engpass im hiesigen Übertragungsnetz auch mit größten Ausbauanstrengungen nicht zu beseitigen sein. Zudem werden mit diesem nationalen Fokus günstigere, regionale Erneuerbare-Energien- und Netzoptionen benachteiligt, wenn nicht gar ausgeschlossen.
Auch die skandinavischen Länder haben ihre Strompreiszonen aufgrund der europäischen Anforderungen neu geordnet und entlang der physikalischen Gegebenheiten organisiert. Eine Weigerung Deutschlands aufgrund der damit gefährdeten Liquidität des nationalen Stromgroßhandels mutet dabei kaum wie die Position eines progressiven EU-Mitgliedstaates an.
Auch Deutschland und die neue Regierung sollten sich dabei bewusst sein, dass es in Europa nicht um Spalten oder Separieren geht, sondern darum, die Optionen entsprechend den Gegebenheiten zu nutzen – ohne Ansicht der Nationalgrenzen. Dies gilt auch für den Energiebereich. Entsprechend müssen die Gebotszonen nicht kleiner werden, noch muss die Liquidität am Handelsplatz sinken. Nur sollten die europäischen Märkte zügig entlang der verfügbaren Leitungen ausgerichtet werden.
Gemeinsame Strommärkte von Amsterdam über Hamburg nach Kopenhagen und von Straßburg über München nach Wien werden auch bezüglich der Liquidität nicht schlechter sein müssen als der heutige nationale Strommarkt. Wenn Deutschland Europa und die Energiewende tatsächlich ernst meint, dann sollte die zukünftige Bundesregierung endlich anfangen, nicht nur von Europa zu reden, sondern auch danach zu handeln.
Eine Version dieses Artikels erschien in Tagesspiegel BACKGROUND.